Donnerstag, 1. Juli 2010

Taktisches Unentschieden im Berliner-Polit-Sudoku

Fast so spannend wie ein Fußballspiel in der WM Vorrunde gestaltete sich die gestrige Bundespräsidentenwahl. Der letztlich Ausgang war, bei einer klaren Mehrheit von 644 (notwendig: 623) Stimmen der Regierung, zwar nicht anders zu erwarten. Aber wie es zustande kam ist durchaus ein Lehrstück deutscher Demokratie. Einerseits, weil immerhin wenigstens 19 Abweichler bis zum taktischen Schluss durchhielten, zweitens ist es auch ein Lehrstück der Spieltheorie.

Nun, es gab vier Kandidaten, wobei der Vierte niemanden so recht auffallen wollte. Die Gamer in diesem Politsudoku hatten vorab aber die folgenden Ziele:

(A) Regierung (CDU/CSU/FDP) Ziel: Wulff durchsetzen
(B) Abweichler (CDU/CSU/FDP) Ziel: Merkel und Westerwelle ans Bein pinkeln
(C) Opposition (SPD/Grüne) Ziel: Berliner "Gurkentruppe" ordentlich aufmischen
(D) Fundamentalopposition (Linke) Ziel: Die Unbeugsamen Spielverderber
((E) Der Vollständigkeit halber: Die Ultrarechte (NPD) hatte auch ein Ziel: Wenigstens auffallen)


Nun, wie verhält man sich in so einem Spiel mit Zahlen?
Erstens ist klar, wenn man den bereits ausgekasperten Kandidaten, und damit letztlich auch die Regierung, zu Fall bringen will, dann muss man immerhin wenigstens 22 Regierungsanhänger, die unter Fraktionszwang stehen, über bis zu 3 Wahlgänge auf seine Seite ziehen. Das klingt weit einfacher als es ist, realistisch konnte man davon nicht ausgehen.

Realistisch war nur die Hoffnung, wenigstens den reibungslosen Durchmarsch Wulffs und Merkels in der ersten Runde zu verhindern. Genau an diesem Punkt konnte man von der Einigkeit der Gruppen B,C,D ausgehen. Eine entscheidende Rolle spielte nun der Wahlalgorithmus: In den ersten beiden Wahlgängen ist eine absolute Mehrheit, also 623 Stimmen notwendig, im letzen 3.Wahlgang dagegen reichte die relative Mehrheit der Stimmen. Zu dem ist die Wahl geheim, also verdeckt gewesen.

Und nun wird’s spannend: Vor der ersten Abstimmung wusste also keiner der Stimmberechtigten genau, wie sich die Anderen, ja selbst der Fraktionsnachbar, verhalten würde. Ein Paradies für Taktierer wie beim Skat, Poker oder Doppelkopf.

Erster Wahlgang: Es war wegen der kaum anzweifelbaren Aussage der Linken, für ihre eigene Kandidatin zu stimmen, völlig unrealistisch das Gauck in der ersten Runde eine absolute Mehrheit bekommen könnte. Dafür hätten schon rund 200 der Gruppe A zu B überlaufen müssen. Selbst wenn die 644 Regierungsanhänger sich alle enthalten hätten, somit Wulff keine einzige Stimme bekommen hätte, es hätte für Gauck keinesfalls gereicht, da es wegen der Linken für ihn praktisch unmöglich war auf 623 Stimmen zu kommen.

Ergo konnte die Gruppe B also in die Vollen gehen, und zwar ohne realistisches Risiko. Folglich vielen 44 von Merkels Linie ab, Wulff erhielt nur lausige 600 Stimmen. Ein klarer Tritt zwischen die dicken Zehen für Merkel und Westerwelle.

Zweiter Wahlgang: Nun waren die Verhältnisse aber geklärt. Während die Gruppen A,C,D dieses Ergebnis dem Grunde nach erwarten durften, muss Gruppe B aber das Blut in den Adern geronnen sein. Denn 44 Abweichler, das war schon heftig. Klar war: Hätte die Gruppe D Foul gespielt, also ihre Ankündigung die eigene Kandidatin zu wählen nicht eingehalten, und gleich für Gauck gestimmt, dann wäre dieser in der ersten Runde mit absoluter Mehrheit durch gewesen. Da hätte nicht nur Wulff sondern gleich die ganze Regierung, und damit ein Teil der Abweichler selbst, die Koffer packen können.

Nun gab es in der Pause offensichtlich Gespräche zwischen den Gruppen C und D. Zwar erklärte Gysi danach glaubhaft, dass die Linke weiter bei ihrer Kandidatin bleiben würde. Völlig auszuschließen war für B aber nicht, dass D nicht doch Foul spielen könnte und einen großen Coup der Opposition unterstützen würde. Die Wahrscheinlichkeit war gering, aber nicht unmöglich. Ergo vielen hier bereits 15 der 44 Abweichler (=34%) um, und votierten zur Sicherheit für Wulff.

Ergo erhielt letzterer bereits 615 Stimmen, immer noch 8 Stimmen zu wenig und alle Gruppen A,B,C,D hatten ein weiteres mal ihre dringendsten Ziele erreicht. Allerdings war hier die einzige realistische Chance für Gauck vertan, denn nur, und zwar nur, wenn Gysi hier brutal gegrätscht hätte, wäre die Wahl Gaucks möglich gewesen. Das aber hätte der Linken ihre Glaubwürdigkeit und Standfestigkeit beraubt.



Dritter Wahlgang:
Jetzt war rein theoretisch die Wahl offen, denn Gysi nahm seine Kandidatin aus dem Rennen. Allerdings kündigte er Stimmenthaltung an, gab aber ansonsten seinen Leuten die freie Wahl. Auch wenn kaum zu erwarten war, dass eine Mehrheit der Linken nun Gauck wählen würde, und auch dass die anfänglichen 600 Stimmen für Wulff schon reichen würden, so wäre es doch nun zu riskant gewesen, sich weiterhin auf die Linke zu verlassen. Also fielen nun weitere 10 der Gruppe B um, und der vorbestimmte Kandidat der Regierung erhielt nun mit 625 Stimmen sogar die absolute Mehrheit, die er nun sogar nicht mehr benötigte. Zuletzt waren also 57% der Abweichler wieder Heim zu Muttern gekehrt, wie auch nicht anders zu erwarten war.

„Vierter Wahlgang“: Der war nun nicht mehr notwenig, aber er besteht im medialen Nachkarten der Gruppen unter einander. Das wird noch einige Tage anhalten, bis über den Tag hinaus, wo dann der neue Volksvorstand der Nation, ohne direkte Machtoptionen, im Amt ist.

Da sind vorweg natürlich die Linken, denen man nun die „Schuld“ an der Niederlage Gaucks anheften möchte. Diese hätten ja nun bewiesen, dass sie „nicht Politik fähig“ wären. Nun, wenn man Politikfähigkeit im geschickten Rochieren von Stimmen und Personen zum Zwecke eines Regierungssturzes definiert, dann kann das schon stimmen. Wenn man unter Politikfähigkeit dagegen die Nibelungentreue zu seinen Vorstellungen und Kandidaten sieht, wohl nicht. In diesem Punkt hat sich die Linke schließlich nicht anders verhalten als die Regierungskoalition.

Zudem muss man sich klarmachen: Hätte die Gruppe D von Anfang an mit Gruppe C gehalten und einen gemeinsamen Kandidaten Gauck auf gestellt, dann wären die Abweichler B deutlich vorsichtiger gewesen. Vermutlich hätte es dann sogar bereits im ersten Wahlgang für Wulff gereicht und alleine Gruppe A hätte einen glänzenden Sieg eingefahren, während die Gruppen B,C,D gelackmeiert gewesen wären. Nun haben aber eigentlich alle gesiegt, jeder der Gruppen A bis D können sich irgendwo auf die Schulter klopfen: 1:1:1:1.

Selbst die Demokratie hat noch eine Gewinnpunkt zu verbuchen: Denn selten war die, realpolitisch eigentlich ziemlich nutzlose, Präsidentenwahl ein solcher Aufreger, kaum mal hat sie ein so breites Politikinteresse geweckt. Und 19 aufrechte Abweichler, trotz Fraktionszwang, in der Endabrechnung ist auch kein schlechtes Zeichen. Also hier noch einmal ein Treffer :1


Nur einen echten Verlierer gibt es: Die NPD. Die wurde und wird von allen Beteiligten, einschließlich der großen Medien, völlig ignoriert. Das geht so weit, dass sie in den quasi-offiziellen Statistik des Spiegels mit ihrem eigenen Kandidaten gar nicht auftaucht. Lediglich am Rande lesen wir: „Der NPD Kandidat Frank Rennicke erreichte im ersten und zweiten Wahlgang 3 Stimmen. Im dritten Wahlgang trat er nicht mehr an.“ Auch in der Fernsehberichterstattung tauchte er nicht wirklich auf, kaum einer mochte auch nur seinen Namen kennen. Hier also Null Treffer :0.

Macht also 1:1:1:1:1:0 als Endergebnis. Sieht zwar so ähnlich aus wie das Ergebnis der Italiener oder Franzosen in der WM-Vorrunde, aber immerhin, eine nette Abwechslung vom Ballgekicke in Südafrika war es allemal.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich werde ihn baldmöglichst freischalten. Diese Funktion dient lediglich der Vermeidung von Spam- und Flame- Kommentaren und dient niemals einer Zensur.