Das Stichwort “Korridor” sagt den jüngeren Lesern wahrscheinlich nicht mehr so viel. Tatsächlich war
der fehlende Korridor nach Ostpreußen via Danzig für
Hitlerdeutschland einer der wesentlichen Stacheln im Fleisch, der zum
Mitauslöser des Zweiten Weltkriegs wurde. Entstanden war die Frage
als Folge des verlorenen Ersten Weltkriegs: Durch den Verlust von
Westpreußen an das neu gegründete Polen war die unmittelbare
Verbindung zum deutschen Ostpreußen abgerissen. Eine Versorgung hing
ebenso an See- und Luftweg oder am zweifelhaften Gutdünken der
polnischen Regierung, eine solche Landversorgung zu zulassen oder
ggf. eben auch einfach zu unterbinden. Keine besonders schöne
Situation für das wieder erstarkte Deutschland der Dreißiger Jahre,
dass, allen Kriegsverlusten zum Trotz, Polen sowohl wirtschaftlich
als auch militärisch der polnischen Armee haushoch überlegen war.
Als es folgerichtig in 1939 endgültig zum offenen Krieg kam, waren gerade 21 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg vergangen.
Vorausgegangen waren unendliche
Zugeständnisse, politisch, militärisch und territorial auf Kosten
der deutschen Anrainerstaaten, die berüchtigte
Appeasementpolitik Chambarlains und Co.: „...Im engeren Sinne steht der Begriff für
die heute negativ bewertete Politik (policy of appeasement) des
britischen Premierministers Neville Chamberlain und einer Gruppe
britischer Politiker, der sogenannten Cliveden-Clique, die 1938 im
Münchner Abkommen die Eingliederung des Sudetenlandes, später die
gewaltsame Annexion Tschechiens, verbunden mit der Einrichtung des
Protektorats Böhmen und Mähren, auf dem Gebiet der damaligen
Tschechoslowakei durch das Deutsche Reich toleriert hatten, um einen
Krieg inEuropa abzuwenden. Damit führte Chamberlain die Außenpolitik
seiner Amtsvorgänger Ramsay MacDonald und Stanley Baldwin fort.
MacDonald hatte schon auf der Konferenz von Lausanne 1932 die
Franzosen gedrängt, den deutschen Forderungen nach einerRevision des
Versailler Vertrags nachzugeben, und gilt daher als „Vater“ der
Appeasement-Politik. Einer der wichtigsten Grundgedanken der
Appeasement-Politik war ein kollektives, vertraglich vereinbartes
Sicherheitssystem der europäischen Staaten, das auf der Grundlage
des Völkerbunds oder anderer internationaler Verträge geschaffen
werden sollte. Zu den Verteidigern der Appeasement-Politik zählten
daher auch Vertreter des europäischen Föderalismus wie Philipp
Kerr....“. Und genützt hatte alles das am Ende nichts. Ganz im
Gegenteil, jeder offensichtliche Sieg im Appeasement Handel für
Hitlerdeutschland war nur Bestätigung und Aufforderung zu gleich, es
noch wilder zu treiben.
Auch Russland hat kürzlich die gleiche
Erfahrung machen müssen: Der Zusammenbruch der Sowjetunion liegt nun gerade 24 Jahre
zurück, als faktische Folge dass man den “Kalten Krieg” verloren
hatte. Und verloren damit auch ihren direkten Einflussbereich, der ja schließlich bis zur Elbe einschließlich Magdeburg reichte. Ein Umstand, den die Jungen hierzulande unter 30 praktisch nicht mehr kennen, schon gar nicht als Teil ihrer Lebenserfahrung. Und diese Grenze stellte damit die quasi
Russische Westgrenze dar, nicht ganz offiziell, aber eben
faktisch. Zudem hat Russland durch den Zerfall der Union auch seine eigenen Landesgrenzen zersplittern müssen. Mit der Folge, dass nun definitiv sogar gleich
mehrere Korridore entstanden. Aktuell eben die Krim, aber natürlich
auch Kaliningrad auf dem Baltikum und Transnistrien auf dem Balkan.
Und wie immer wenn eine tief gekränkte Ex-Weltmacht nach dem Verlust
eines Krieges Land- und Einflussverluste kassieren musste, und
fehlende Korridore schmerzen, da braucht es halt nur einen
kaltschnäuzigen Revanchisten, der all den schon scheinbar kalt
gewordenen Kaffee wieder auf Hochtemperatur bringt.
Der Zweite Minkser “Frieden” vom 12. Februar 2015 hat
entsprechend natürlich nie wirklich gehalten. Abgesehen von der
Tatsache, dass der Waffenstillstand nach Abschluss der Verhandlungen
zunächst, zumindest einigermaßen halbherzig, stattfand, nachdem(!)
Russland sein vorläufiges taktisches Ziel erreicht hatte: Nämlich
die Einschließung und Belagerung der ukrainischen Truppen um Debalzewe erfolgreich
zu beenden. Und so dient der zuletzt verzeichnete Abzug schwerer
Waffen, ebenso so lala und nur zögerlich durchgeführt, auch
keineswegs einer Beendigung der Kampfhandlungen.
Was in Debalzewe anstand war
tatsächlich ein möglicher Todesstoß für die Separatisten gewesen:
Wäre der Schlauch bis zur Grenze durchgestoßen, dann wäre das
Separatistengebiet in zwei Teile gespalten worden; ein nicht
gewinnbarer Zweifrontenkrieg aus Separatisten Sicht. Es war klar das
Putin und die Sepa's auf den Minskerfrieden solange “scheißen”
würden, bis diese Sache für sie positiv beendet war. Aber nun geht
es militärtaktisch genauso weiter, um natürlich den Spieß nun
umzudrehen. Tatsächlich geht es lediglich um eine Umgruppierung.
Ziel ist natürlich der Korridor zur Krim, eine conditia sine qua non
für Putin. Denn ein so wichtiger Militärstützpunkt wie die Krim,
die nur über See- und Lufttransport versorgt wird, ist ein teurer
und wenig sinnvoller Spaß für die Russische Armee. Dieser Korridor
wird nun definitiv in Angriff genommen.
Das aktuell begonnene russische
“Großmanöver” auf der Krim, das offiziell bis Anfang April
laufen soll, hat dabei nur einen Sinn: Die Bälde die notwendige
zweite Front aufzumachen. Denn es ist klar, dass die Separatisten von
ihrer jetzigen Grenze, kurz vor Mariupol die noch fehlenden rund 250
km ohne russische Hilfe nicht stemmen können. Selbst die ja bereits
stattgefunden massive, und nur mühsam versteckte, Unterstützung
durch reguläre russische Truppen dürfte dazu kaum ausreichen. Es
sei denn Putin ginge voll und ganz aus der publizistischen Deckung
und ungeschminkt mit seinen Truppen in die Ukraine hinein.
Was als nächstes geschehen wird ist so
klar wie die berühmte „Kloßbrühe“: die zweite Front von
Südwesten muss her, die Ukraine soll an zwei Fronten kämpfen
müssen. Ein Kampf, den diese wiederum ohne die Hilfe der USA und
NATO nicht gewinnen kann.
Mit seinem als „Großmanöver“
getarnten Aufmarsch sammelt nun Russland die benötigten Kampftruppen
und schweren Waffen auf der Krim. Dazu braucht es etwa einen Monat,
und die Separatisten brauchen diese Zeit ebenfalls zur Umgruppierung
ihrer Kräfte. Was dann noch fehlt ist lediglich ein publizistisch zu
verkaufender Grund, dass reguläre Russische Truppen dann die
Nordgrenze der Krim überschreiten werden, um die Fronten mit dem
Donbass zu schließen. Voila, der Korridor ist da.
Auch wenn Putin keinen Grund mehr für
diese Intervention braucht, denn diese wurde war schon vor einem Jahr
beschlossen, wird er wieder die üblichen Register der Propaganda ziehen. Nicht um die NATO Militärs zu beeindrucken, die wissen
schließlich längst wie der Hase läuft. Aber um die öffentliche
Meinung in der EU flach zu halten, so dass eine offene militärische
Unterstützung der Ukraine, und damit effektive Waffenlieferung und
Personalgestellung, möglichst unterbleiben. Und daran bastelt man
natürlich schon eifrig, die Zeit drängt: So ist es offensichtlich
eine „Provokation“ das nun 300 US Militär-Berater in der
Ukraine eingetroffen sind. So als wäre das im Verhältnis zur
Krimokkupation und der massiven Proseparatistischen Einsätzen der
russischen Armee im Donbass wirklich noch als bedeutungsvoll und
“provokativ” zu verstehen. Reine Augenwischerei.
Aber man kann sich, so bald alles
bereit für den Angriff ist, leicht vorstellen was da kommen wird:
Dann wird man sowohl die zur Verteidigung notwendig positionierten
ukrainischen Truppen und die ebenso notwendige mehr oder weniger
große Unterstützung durch die NATO kaltschnäuzig als „nicht
nachvollziehbare imperialistische Provokation“ des Westens
brandmarken. So als hätte es nie ein Budapester Abkommen gegeben, wo
insbesondere gerade auch Russland hoch und heilig die, im
Zweifelsfalle selbstverständlich sogar atomare Garantie, für die
territoriale Unversehrtheit der Ukraine abgegeben hätte. Die hat
Russland nun kaltschnäuzig mit Füssen getreten, und auch die
anderen Garantiemächte der NATO, indem sie eben bislang noch nichts
wirklich brauchbares gegen diese elementare Verletzung eines
zentralen Sicherheitsabkommens getan hat.
Wir werden also bald von Putin mit
Dackelaugen erklärt bekommen, dass man ja nur auf diese „sinnlose
Provokation“ reagieren müsse, um die akut bedrohten russischen
Minderheiten vor dieser unverständlichen Agression schützen müsse. Etc. pp. Alles reichlich durchsichtig, aber gut genug um schon jetzt
von der nach Frieden dürstenden EU aufgesogen zu werden. Zwei aktuelle und interessante Aussagen
mögen hier einen Eindruck und etwas Klartext abgeben:
So aktuell der US Außenminster Antony Blinken: „...Je brüchiger das Minsker
Friedensabkommen wird, desto empfindlicher trifft das
US-amerikanische Störfeuer die deutsche Bundeskanzlerin. Während
Angela Merkel ihr Mantra wiederholt, dass es keine militärische
Lösung für den Konflikt in der Ukraine gibt, wird auf der anderen
Seite die Forderung nach Waffenlieferungen an die Regierung in Kiew
lauter. …..Zugleich betonte Blinken die
Verantwortung seines Landes für die Ukraine. Nach dem Zusammenbruch
der Sowjetunion vernichtete die Ukraine ihre Atomwaffen. Im
Budapester Memorandum sicherten ihr die sogenannten Garantiemächte
im Gegenzug Schutz zu. "Wir müssen zu unserer Verantwortung
stehen", sagte Blinken in Berlin. "Wir haben die Ukraine
damals überzeugt, ihre Atomwaffen aufzugeben. Sie sagten: Wir wollen
eine Garantie. Drei Staaten standen auf: Großbritannien, die USA und
Russland. " Nun habe Russland die territoriale Integrität der
Ukraine verletzt - und die anderen Staaten müssten handeln: "Was
sagt das sonst aus in einer Zeit, in der wir versuchen, Nordkorea
davon zu überzeugen, seine Atomwaffen aufzugeben, und den Iran,
keine zu entwickeln?", fragte der Stellvertreter von John Kerry. Dabei müsse der Westen nun seine
Stärken ausspielen: nämlich die Kosten für Russland zu erhöhen.
Der strategische Verlust für Russland werde immer deutlicher, so
Blinken: "Putins Verhalten hat dazu geführt, dass der Großteil
der Ukraine geeinter und westorientierter ist als jemals zuvor, dass
die europäischen Staaten nach Unabhängigkeit von russischem Öl
streben, dass sich die russische Wirtschaft im freien Fall befindet
und das Kreditrating auf Ramschstatus gesunken ist." Putin hat nun keine wirtschaftliche
Karte mehr, die er ausspielen kann, um sein Volk hinter sich zu
bringen. Er hat nur noch die 'Nationalistenkarte'", sagte der
Vizeaußenminister. Das Problem mit dieser Karte sei folgendes: "Du
musst sie immer weiter ausspielen, denn sobald du aufhörst, schauen
die Leute auf und sehen, was um sie herum passiert ist."... Es gehe allein darum, Russland dazu
zu bringen, die Aggression einzustellen. "Wir haben auf diesem
Weg immer wieder Ausfahrten für Putin gebaut - aber er hat nur
weiter Gas gegeben", so der Amerikaner..."
Die russische Politologin LilijaSchewzowa wirft in einem Focus-Interview Europa Naivität gegenüber
Russland vor: „...Ausgerechnet Deutschland sei der
Schlüssel dazu gewesen, dass Putin sein Machtsystem ausbauen konnte.
Im Interview mit FOCUS Online erklärt sie, warum der politische
Todeskampf des russischen Präsidenten bereits begonnen habe.… Lilija Schewzowa: .... Putin ist seit 15
Jahren an der Macht. Nach dem zu urteilen, was er die letzten zehn
Jahre getan hat und was er gerade tut, geht es ihm vor allem darum,
seine eigene Macht zu erhalten. Damit wiederholt er das Schicksal
aller Kreml-Führer mit Ausnahme von Gorbatschow, der freiwillig
gegangen ist: Wenn du den Kreml nicht rechtzeitig verlässt, begibst
du dich in einen Todeskampf mit deiner eigenen Macht - und wirst
letztendlich in den Flammen untergehen. ....Es geht nicht darum, Putin
als den Bösen abzustempeln. Putin ist nicht böse. Er ist zu einem
großen Teil auch selbst ein Opfer. Ebenso wie viele aus seinem
Umfeld ist er eine Geisel des alten Systems. Er ist nicht frei in
seinen Entscheidungen, weil er innerhalb des bestehenden Systems
keine andere Wahl hat.
FOCUS Online:Halten Sie es für ausgeschlossen, dass Putin seinen Kurs ändert Schewzowa: Wenn man jahrelang keinerlei Opposition zugelassen und damit das ganze Land zu einer Meinungswüste gemacht hat, kann man nicht einfach das Fenster öffnen und dem Wind erlauben, hereinzuwehen. Sobald Putin Opposition im Fernsehen zuließe, wäre er politisch tot. Weil er nicht an eine Wettbewerbssituation und an öffentliche Debatten gewöhnt ist. Er wäre nach einer Minute erledigt – und das weiß Putin. Aber er ist nicht bereit, zu gehen. Deshalb wird er weitermachen, bis er mit Pauken und Trompeten untergeht. Das ist unvermeidlich. Die entscheidenden Fragen sind: Wann? Und wie hoch wird der Preis sein, den wir dafür zahlen müssen? FOCUS Online:Was käme nach Putin? Schewzowa: Es ist zu früh, um das zu sagen. Noch haben wir Putin. Es könnte einen Putsch geben. Sicher ist nur: Früher oder später wird dieses anachronistische System im Kreml, das auf der Macht eines einzigen Mannes basiert, sterben. Es ist kein System des 21. Jahrhunderts. Wir beobachten bereits seinen Todeskampf – auch wenn wir nicht genau wissen, in welcher Stufe er sich befindet.
FOCUS Online:Wie sehen Sie Deutschlands Verhältnis zu Russland? Schewzowa: Ich habe den Eindruck, dass die intellektuelle Elite in Deutschland geteilt ist. Der eine Teil interessiert sich wirklich für das, was in der Ukraine passiert und die Aggression, die von Russland ausgeht. Der andere Teil versucht, die negativen Entwicklungen und deren normative Wirkung zu verdrängen. Ihr Mantra lautet: „Die russische Kultur ist der deutschen doch so nah und so weiter und so fort. Außerdem solle man bitte stets an den Zweiten Weltkrieg denken.“ Man könnte sie als Optimisten bezeichnen. Ich nenne sie bequem oder auch „Putins Ermöglicher“.….Das Schröder-Deutschland und auch das frühe Merkel-Deutschland waren nicht nur ein sehr wichtiger Wirtschaftspartner für Russland, sondern auch auf internationaler Ebene eine Schlüsselressource, eine Art Türöffner. Sogar nach dem Georgienkrieg hat man weiterhin an dem Ziel festgehalten, die Partnerschaft mit Russland zu vertiefen – obwohl im Kreml niemand an Modernisierung interessiert war. .....Die Deutschen und auch andere Europäer haben in den 90er-Jahren den Moment verpasst, an dem sie kritisch und hart gegenüber Russland hätten sein müssen. Damals hätten sie erkennen müssen, dass es in Russland nicht um Demokratie geht, sondern nur um Kooptation und den Export von Korruption – besonders nach Deutschland, Frankreich, England und in die Niederlande.
FOCUS Online:Als Erklärung für den Kurs der europäischen Regierungen nennen Sie Naivität…Schewzowa: Ich hoffe, dass es Naivität war. Denn sonst müsste ich annehmen, dass es nur um wirtschaftliche Interessen und Zynismus ging.….FOCUS Online:Was wünschen Sie sich von Deutschland? Schewzowa: Eine aktivere Politik mit Bezug auf Russland. Deutschland sollte seine Rolle als führende europäische Macht annehmen. Und es sollte sich eingestehen, dass ein Kompromiss mit Putin nicht funktioniert und der Westen bereit sein muss, den nächsten Schritt zu gehen. Das Problem dabei ist, dass es sehr viel Mut braucht, um zu erkennen, dass die Politik der letzten 20 Jahre und alle Illusionen über die Zeit nach dem Kalten Krieg falsch waren. Es handelt sich um ein kollektives Versagen. Aber Deutschland ist bereits auf dem richtigen Weg. FOCUS Online:Die deutsche Regierung betont stets, dass es keine militärische Option gebe. Schewzowa: Das ist falsch. Was im letzten Jahr in der Ukraine passiert ist, hat gezeigt, dass es eine militärische Option gibt. Und Russland hat durch seine Invasion bereits eine militärische Option gewählt. Dass die westlichen Führer nun behaupten, es gebe keine militärische Option, ist bizarr. FOCUS Online: Können Sie sich eine direkte militärische Konfrontation zwischen dem Westen und Russland vorstellen? Schewzowa: Vor einem Jahr hätten wir uns niemals vorstellen können, dass die Krim annektiert wird. Wir waren naiv und lagen falsch. Deshalb sollten wir das nicht wiederholen. Wir können nichts mehr ausschließen, weil es keine Spielregeln mehr gibt. Wir haben eine abweichende Welt betreten, und Europa muss das verstehen.....
FOCUS Online:Halten Sie es für ausgeschlossen, dass Putin seinen Kurs ändert Schewzowa: Wenn man jahrelang keinerlei Opposition zugelassen und damit das ganze Land zu einer Meinungswüste gemacht hat, kann man nicht einfach das Fenster öffnen und dem Wind erlauben, hereinzuwehen. Sobald Putin Opposition im Fernsehen zuließe, wäre er politisch tot. Weil er nicht an eine Wettbewerbssituation und an öffentliche Debatten gewöhnt ist. Er wäre nach einer Minute erledigt – und das weiß Putin. Aber er ist nicht bereit, zu gehen. Deshalb wird er weitermachen, bis er mit Pauken und Trompeten untergeht. Das ist unvermeidlich. Die entscheidenden Fragen sind: Wann? Und wie hoch wird der Preis sein, den wir dafür zahlen müssen? FOCUS Online:Was käme nach Putin? Schewzowa: Es ist zu früh, um das zu sagen. Noch haben wir Putin. Es könnte einen Putsch geben. Sicher ist nur: Früher oder später wird dieses anachronistische System im Kreml, das auf der Macht eines einzigen Mannes basiert, sterben. Es ist kein System des 21. Jahrhunderts. Wir beobachten bereits seinen Todeskampf – auch wenn wir nicht genau wissen, in welcher Stufe er sich befindet.
FOCUS Online:Wie sehen Sie Deutschlands Verhältnis zu Russland? Schewzowa: Ich habe den Eindruck, dass die intellektuelle Elite in Deutschland geteilt ist. Der eine Teil interessiert sich wirklich für das, was in der Ukraine passiert und die Aggression, die von Russland ausgeht. Der andere Teil versucht, die negativen Entwicklungen und deren normative Wirkung zu verdrängen. Ihr Mantra lautet: „Die russische Kultur ist der deutschen doch so nah und so weiter und so fort. Außerdem solle man bitte stets an den Zweiten Weltkrieg denken.“ Man könnte sie als Optimisten bezeichnen. Ich nenne sie bequem oder auch „Putins Ermöglicher“.….Das Schröder-Deutschland und auch das frühe Merkel-Deutschland waren nicht nur ein sehr wichtiger Wirtschaftspartner für Russland, sondern auch auf internationaler Ebene eine Schlüsselressource, eine Art Türöffner. Sogar nach dem Georgienkrieg hat man weiterhin an dem Ziel festgehalten, die Partnerschaft mit Russland zu vertiefen – obwohl im Kreml niemand an Modernisierung interessiert war. .....Die Deutschen und auch andere Europäer haben in den 90er-Jahren den Moment verpasst, an dem sie kritisch und hart gegenüber Russland hätten sein müssen. Damals hätten sie erkennen müssen, dass es in Russland nicht um Demokratie geht, sondern nur um Kooptation und den Export von Korruption – besonders nach Deutschland, Frankreich, England und in die Niederlande.
FOCUS Online:Als Erklärung für den Kurs der europäischen Regierungen nennen Sie Naivität…Schewzowa: Ich hoffe, dass es Naivität war. Denn sonst müsste ich annehmen, dass es nur um wirtschaftliche Interessen und Zynismus ging.….FOCUS Online:Was wünschen Sie sich von Deutschland? Schewzowa: Eine aktivere Politik mit Bezug auf Russland. Deutschland sollte seine Rolle als führende europäische Macht annehmen. Und es sollte sich eingestehen, dass ein Kompromiss mit Putin nicht funktioniert und der Westen bereit sein muss, den nächsten Schritt zu gehen. Das Problem dabei ist, dass es sehr viel Mut braucht, um zu erkennen, dass die Politik der letzten 20 Jahre und alle Illusionen über die Zeit nach dem Kalten Krieg falsch waren. Es handelt sich um ein kollektives Versagen. Aber Deutschland ist bereits auf dem richtigen Weg. FOCUS Online:Die deutsche Regierung betont stets, dass es keine militärische Option gebe. Schewzowa: Das ist falsch. Was im letzten Jahr in der Ukraine passiert ist, hat gezeigt, dass es eine militärische Option gibt. Und Russland hat durch seine Invasion bereits eine militärische Option gewählt. Dass die westlichen Führer nun behaupten, es gebe keine militärische Option, ist bizarr. FOCUS Online: Können Sie sich eine direkte militärische Konfrontation zwischen dem Westen und Russland vorstellen? Schewzowa: Vor einem Jahr hätten wir uns niemals vorstellen können, dass die Krim annektiert wird. Wir waren naiv und lagen falsch. Deshalb sollten wir das nicht wiederholen. Wir können nichts mehr ausschließen, weil es keine Spielregeln mehr gibt. Wir haben eine abweichende Welt betreten, und Europa muss das verstehen.....
Nur, was soll man wirklich tun?
Militärisch nicht zu reagieren ist genauso riskant wie offen zu
agieren. Ohne ernst zu nehmende Drohkulisse, 300 Militär-Berater und
ein paar defensive Waffenlieferung sind das definitiv nicht, wird
Putin keinen Gründe sehen an seinem Vormarsch und seiner
Propagandataktik irgendetwas zu ändern. Wozu denn auch, wenn es so
leicht ist und blendend funktioniert. Nur wenn die entgegenstehende
Drohung so groß und ernsthaft ist, dass man auch im Kreml daran
glaubt und die möglichen Kosten als zu hoch einschätzt, dann kann
das überhaupt etwas bewirken.
So ist dass schon auf dem Schulhof mit
den Drohungen gewesen wenn sich zwei streiten, und so kindisch geht
es auch in der großen Welt später zu, was ja nicht von ungefähr
kommt. Natürlich wird keiner in EU und NATO wirklich einen offenen
Krieg mit den Russen provozieren wollen, auch wenn es die russische
Propaganda suggeriert und diese insbesondere von der politischen
Linken bereitwillig aufgesogen und repetiert wird. Es ist aber, ganz
wie auf dem Schulhof, völlig hoffnungslos dem Streit mit dem starken
Bösewicht auch dauerhaft auszuweichen. Selbst eine bereitwillige
Unterordnung hilft mittelfristig nichts, im Gegenteil provoziert es
nur den Durst nach dem Mehr. Tatsächlich muss man Stärke durch
Gemeinsamkeit aufbauen und glaubhaft demonstrieren. Und wie auf dem
Schulhof wird es meist erst dann geglaubt, wenn man ggf. auch unter
Anwendung körperlicher Gewalt auf Augenhöhe dem Bösen Buben
begreifbar macht. So ist das leider, Menschen sind so, und
andernfalls geht man hoffnungslos unter. Es hilft auch nichts wenn
man die schreckliche Jugend des bösen Buben, seine vielleicht
schrecklich bösen Eltern oder die bemitleidenswerten äußeren
Umstände usw. als Entschuldigung anführt. Es mag helfen den Bösen
Buben zu verstehen, es ändert aber nichts an der praktischen Gewalt
der man ausgesetzt ist und die ohne ausreichende Gegenwehr nicht nur
kein Ende finden wird, sondern sogar noch weiter zunehmen wird. So
auch in der realen Welt. Denn auch wenn Kriege, egal wo kaum etwas
mit Religion oder gekränkten Stolz, sondern letztlich immer mit
Bedürfnis oder Gier nach Ressourcen, Geld und Pfründen
zusammenhängt, man kann es bejammern, aber es hilft einem nicht wenn
man erst mal ins geladenen Kanonenrohr blicken muss.
Und das kann schon bald der Fall sein.
Denn es gibt auch noch den Korridor nach Königsberg, quer durch das
Baltikum oder Polen. Das ist noch lange nicht gegessen, selbst wenn
man die Ukraine auf dem Altar Putins opfert. Ein ganz altes Dilemma
des Friedlichen, da ist 2015 auch nicht anders als 1939.