Freitag, 10. Dezember 2010

Von Journalisten, Assangisten und Anarchisten


Als ich vor einigen Jahren auf dem Bonner Weihnachtsmarkt Einkäufe für die Festtage erledigen wollte, kamen zwei adrett gekleidete junge Herren mit feinsten Manieren zielgerichtet auf mich zu marschiert. Sie stellten sich höflich als Missionare eines der fleißigen US-amerikanischen Sekten aus Utah vor, und fragten mich im ausgesucht höflichen Ton, welcher Religion ich denn angehöre. Nun ja, Sie kennen diese Szene vielleicht selbst. Würde ich nun, ganz ehrlich, antworten "römisch katholisch", nun, dann könnte ich mir den Einkaufsnachmittag abschminken mit Diskussionen um Gott und die Welt und warum ich nicht lieber Mormone oder so etwas werden solle.

Ich könnte nun auch den banalen Fehler begehen mit "ich bin Atheist" zu antworten, um die beiden Herren möglichst schnell wieder los zu werden. Dann aber könnte ich mir nicht nur den Nachmittag, sondern gleich den ganzen Rest der Woche abschminken, weil die Missionare dann so richtig in Fahrt kämen, um das offensichtlich vom Teufel besetzte Menschenkind wieder auf den Pfad des einzig wahren Herren zurück zu bringen. Also entsann ich mich spontan meiner Seelenverwandtschaft zu fernöstlichen Religionen und antwortete kurz entschlossen: "Ich bin Buddhist!".

Der Erfolg war durchschlagender, als ich erwartet hatte. Die Beiden freundlichen Herren schauten sich nur kurz an, und, verabschiedeten sich, ohne weitere Kommentare und vor allen Dingen sofort, mit bekannter Höflichkeit. Was war da wohl passiert? Nun, da waren zwei Dinge entscheidend. Erstens, das wichtigste, die Missionare erkannten "der ist gläubig, also erstmal ganz o.k." und zweitens "dessen Religion ist so was von anders als unsere, da kommen wir nicht ran, der sabbelt uns den ganzen Nachmittag mit seinem philosophischen Gedöns zu, da verschwenden wir nur unsere wertvolle Missionszeit.". Ergo eine typische Win-Win-Situation, wo beide halbwegs das kriegen, was sie wollten. Beide hatten ihre grobes Weltbild gewahrt, und beide Parteien brauchten keine unnütze Zeit zu vergeuden.

Nun, in der Politik ist es nicht anders. Egal welche Partei Sie wählen, Hauptsache das Sie überhaupt zur Wahl gehen. Egal ob Rechts, Links oder die beliebte Mitte, wo keiner so genau weiß, wo die eigentlich liegt, fasst schon Polit-Buddhismus also. Selbst als Kommunist oder Faschist gehen Sie noch einigermaßen durch, obgleich Sie sicher Missionsversuchen ausgesetzt sind, aber wehe, wehe, Sie machen den banalen Fehler zu sagen, Sie seien Anarchist. So wie der Atheist sind Sie dann unmittelbar die Ausgeburt des Teufels, der Vertreter von Chaos, Hedonismus und Zügellosigkeit, das Abbild der Hölle auf Erden.

So ein Fall ist natürlich Julian Assange, umgangssprachlich neudeutsch ein „Internet-Anarchist“. Als solcher befindet er sich nun konsequenterweise auf der schwarzen Liste der most-wanted-persons der US-amerikanischen, aber beileibe nicht nur, Sicherheitsbehörden. Nach der Veröffentlichung abertausender Geheimdokumente des US-Militärs und der US-Diplomatie dürfte die Frage an die Geheimdienste, wen sie denn lieber unter der Erde sähen, Osama bin Laden oder Julian Assange, ganz sicher mehrheitlich mit zweitem Namen beantwortet werden. Denn Osama ist als lebendes Feindbild nützlicher als ein toter Märtyrer, und wirklich gefährlicher als die Unzahl seiner Anhänger ist er auch nicht, richtig gefährlich für die Machtfrage ist dagegen Assange bzw. seine (noch) Organisation Wikileaks.

Seine grundsätzlichen Ideen fasst Wikipedia zusammen: „Assange steht Ideen des Krypto-Anarchismus nahe. Ausgehend von libertärem Gedankengut stellt der Krypto-Anarchismus eine Informationsasymmetrie zwischen Staat und Bürgern fest. Während ein Staat in der Lage sei, große Teile der Kommunikation seiner Bürger zu überwachen, versucht er gleichzeitig, viele Informationen vor diesen geheim zu halten. Die technischen Innovationen des Internets böten nun die Möglichkeit, die festgestellte Asymmetrie umzukehren. Einerseits könnten alle privaten Informationen mit kryptographischen Mitteln geschützt werden. Dies hätte eine weitgehende Beschränkung staatlicher Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten zur Folge. Das gleiche Ziel könnte andererseits aber auch durch die konsequente Veröffentlichung von Herrschaftswissen erreicht werden. Das Publikmachen von Herrschaftswissen würde Staatsorgane dazu veranlassen, ihre Kommunikationsflüsse zu reduzieren, was eine Verminderung der Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems Staat bedeuten würde. Dazu Assange: „Leaking ist eine inhärent antiautoritäre Tat. Es ist eine anarchistische Tat.““

Die wesentliche Idee hinter Wikileaks ist also, den Spies zwischen Staat und Bürger einfach umzudrehen. In der Tat hat die Datensammelei des Staates in den letzten zwei Jahrzehnten bedenklich zugenommen. Je nach Staat unterschiedlich, ist das klassische demokratische Telefon- und Briefgeheimnis, das Recht zur freien Rede, journalistische Rechte zur freien Berichterstattung und dem Schutz von Informanten, das Recht an persönlichen Daten etc. pp. zunehmend unterminiert worden. Die staatlichen Datenbanken, insbesondere der USA, quellen geradezu über von vermeintlich nützlichen Informationen über harmlose oder vorgeblich gefährliche Bürger, aber auch über Politiker aller Nationen und ihre menschlichen und fachlichen Gefährdungen, wie zuletzt die brisanten und von Wikileaks öffentlich gemachten, Diplomatendepeschen.

Die kürzlich herausgegebenen Diplomatenmails ließen nicht nur das Fass Wikileaks endgültig überlaufen, sie zeigten natürlich auch die Schwächen solcher Datensammelei nur zu deutlich auf. So hatten etwa 2,5 Millionen amtliche Personen in den USA freien Zugriff auf die Recherchedatenbank. Das da etwas „leakt“ ist natürlich kaum zu vermeiden. Die bereits gezogene Konsequenz ist nun genau das, was Assange beabsichtigte: Der Zugriff auf diese Daten wurde deutlich begrenzt. Und mit jeder Veröffentlichung wird die Datensammelei faktisch eingeschränkt, denn nur Daten die nicht wirklich verfügbar sind, sind auch endlich sicher vor Datenklau. Die mittelfristige Konsequenz ist dann weniger Datenzugriff, aber insbesondere auch weniger Datenerhebungen.

Insbesondere letzteres ist natürlich ein vermeintlich wichtiges Machtinstrument, dass nun wackelig zu werden droht. Der US-Generalstaatsanwalt brachte es kürzlich auf den Punkt: „US Attorney General Eric Holder has said that he has authorised investigations into the possibility of prosecuting those responsible for the Wikileaks Cablegate leaks. Speaking today (6 December), Holder said: “I personally authorized a number of things last week and that’s an indication of the seriousness with which we take this matter and the highest level of involvement at the Department of Justice.””

Dementsprechend harsch (highest level of involvement) sind nun auch die Reaktionen seitens der USA, wo alle Hebel in Bewegung gesetzt werden den Wikileaks-Spuk möglichst schnell zu beenden. Da ist einmal der, wenn man sich die öffentlich verfügbaren Details anschaut, ausgesprochen nach Pech und Schwefel eines Hexenprozeß riechende Vergewaltigungsvorwurf aus Schweden, der erst nach mehrmaligem Austausch der zuständigen Staatsanwältinnen so richtig fluppen wollte. Schaunmermal, was dabei tatsächlich herumkommt. Ganz offensichtlich dagegen sind natürlich die reihenweise Einflussnahmen auf namhafte Firmen wie ebay, amazon, paypal, master card , internet provider, URL-adress Vergabe usw. usf. um Wikileaks die finanzielle und technische Plattform zu entziehen.

Die Gegenseite schläft derweil allerdings auch nicht. Einerseits versucht Wikileaks alles mögliche, um seine technisch-finanzielle Basis zu retten. So werden die notwendigen Daten auf andere Server verbracht, neue URLs kreiert usw. Das wird sicher nicht reichen, daher kam jetzt der Gegenangriff auf die Firmen, die sich dem Druck von oben beugten: Mit DoS-Angriffen (denial of service: Überfrachtung eines Internet-Servers mit Dienstanfragen) wurden schon einige Webseiten lahm gelegt. Insbesondere etwa für Kreditkartenfirmen ist das ein ernsthafte Gefahr, denn wenn die Server dieser Firmen nicht zeitnah laufen, dann können Millionen von Kunden in dieser Zeit ihre Karten am Supermarktterminal nicht nutzen. Das geht heftig ins Geld und Renomee.

Solche Webangriffe funktionieren aber nur dann, wenn man einige tausend Unterstützer dafür zusammenbringt, die sich eine so genannte „Ionen-Kanone“ herunterladen und in Betrieb nehmen. Exemplarisch wurde nun der erste dieser Kanoniere in den Niederlanden verhaftet. Das es sich dabei um einen Minderjährigen handelt zeigt einerseits, dass sich insbesondere die von der Verteilungspolitik abgehängte und frustrierte Jugend für solche Projekte begeistert, und andererseits die geschickte Wahl der niederländischen Behörden, mit der Verhaftung eines nur 16-jährigen Halbwüchsigen maximale Verunsicherung unter der vermeintlichen Teenagerbande "Anonymous" zu schüren.

Die Front der jungen und gebildeten Leute ist natürlich auch in den USA längst aufgemacht. So hat die Columbia Universität ihre Studenten eindrücklich gewarnt: „We received a call today from a SIPA alumnus who is working at the State Department. He asked us to pass along the following information to anyone who will be applying for jobs in the federal government, since all would require a background investigation and in some instances a security clearance. The documents released during the past few months through Wikileaks are still considered classified documents. He recommends that you DO NOT post links to these documents nor make comments on social media sites such as Facebook or through Twitter. Engaging in these activities would call into question your ability to deal with confidential information, which is part of most positions with the federal government.” Im Klartext also: Wer sich mit Wikileaks und deren Daten beschäftigt, der kriegt keinen öffentlichen Job. Für die vielen Jurastudenten natürlich ein absolutes Killerargument. Da kann es eventuell schon die Karriere verhindern, wenn nur die eigene IP-Adresse auf dem Logfile einer der Wikileaks-Provider gefunden wird und in Zukunft in einer der vielen Datenbanken amerikanischer Sicherheitsbehörden auf ihre geneigte Verwendung lauert.

So weit also die aktuelle Kriegsberichterstattung. Die Frage ist natürlich, wie man das ganze mit dem Herz des Demokraten bewerten soll. Und das erleidet dabei natürlich ein gehörige Verstopfung der Herzkranzgefäße. Die gesamten Vorgänge rund um Assange und Wikileaks offenbaren ein weiteres, mehr als bedenkliches, Symptom der weltweiten Krise der kapitalistisch demokratischen Welt. Es ist das gleiche Muster, wie wir es aus dem Untergang so vieler Welt- und Großreiche kennen. Im Rom der Antike geschah es genauso, ebenso, nur zum Beispiel, in der französischen Revolution, die den Beginn der modernen Neuzeit vor etwas mehr als 200 Jahren einläutete.

Zuerst ruiniert man die Finanzen, was insbesondere mit einer völligen Verschiebung des Anspruchs auf das BIP in die Hände Weniger Privatiers einhergeht. Daraus folgt unmittelbar der Verlust der Verteilungsgerechtigkeit und des sozialen Zusammenhalts, und damit des Beginns der Anomie, dem Zustand fehlender oder schwacher sozialer Normen, Regeln und Ordnung. Besonders die faktische Ausplünderung des Mittelstandes führt schließlich zu einer inneren Desintegration, spätestens wenn die Finanznot des Staates nicht nur zu drangsalierenden Steuern, sondern auch zum Verlust der Versorgungs- und Schutzfunktion (innere Sicherheit) des Staates gegenüber seinen Bürgern führt. Zudem haben die ruinierten Staatsfinanzen einen, im wahrsten Sinne des Wortes, auch extern verheerenden Effekt: Die äußere Sicherheit und die Durchsetzung überlebenswichtigen Interessen gehen verloren, da die Finanzierung der Machtinstrumente, u.a. des Militärs, unterminiert wird.

Das ist die Situation, in der wir uns nun wieder einmal befinden. Zu einer echten Finanz-, Vermögens- und Verteilungsreform, wie sie unabdingbar wäre, ist der demokratische Staat offensichtlich nicht in der Lage. Ja noch nicht einmal dazu, die Notwendigkeit dafür überhaupt in der notwendigen Breite zu erkennen. Die Frage ist jetzt, ob und wie, man die westlichen Demokratien dazu bringen kann, die Richtung voll Dampf auf den Eisberg zu, zu ändern. Was ist noch legitim, sachgerecht und Erfolg versprechend, was ist dagegen nur zerstörerisch? Die Antwort der Geschichte war bisher regelmäßig die Letztere: finanzkapitulierende Systeme desintegrierten endlich sozial und militärisch bis zum finalen Ab- und Umsturz.

In diesem großen Rahmen müssen wir nun die Rolle eines Julian Assange betrachten. Ist sein Ansatz im weitesten Sinne noch legitim, sachgerecht und Erfolg versprechend? Hilft es uns endlich, die Demokratie vor der zu befürchtenden Zerstörung von oben herab zu retten? Oder hilft es unfreiwillig noch unbekannten Dritten, die nur auf die Etablierung einer frischen Diktatur lauern? Keine einfache Frage mit erst recht keinen einfachen Antworten.

Um einer Antwort näher zu kommen, muss man Assange auch von seiner wohl wichtigsten, d.h. seiner Rolle als investigativer Journalist, betrachten. Denn Wikileaks wirft insbesondere ein scharfes Licht auf die Rolle und die Rechte und Pflichten des Journalismus in der Demokratie. Denn eine Demokratie ohne investigativen Journalismus ist genauso undenkbar wie eine Diktatur mit freiem Journalismus. Das wir (noch) in einer Demokratischen Welt leben, sieht man nun, etwas zynisch formuliert, vor allen Dingen an einem simplen Umstand: Julian Assange lebt noch.

Denn das ist, selbst in einigen mehr oder weniger gut funktionierenden Demokratien unweit der Grenzen der BRD, leider schon keine absolute Selbstverständlichkeit mehr. Etwa im demokratischen post-zaristischen Russland wäre Assange mit einiger Wahrscheinlichkeit längst ein toter Journalist. Dort sterben nämlich in wöchentlichem Rhythmus Journalisten, die den Machenschaften der gehobenen Kreise zu nahe kommen, eines gewaltsamen Todes. Ähnliches gilt für Italien, wo nicht nur Journalisten, sondern selbst Richter und Staatsanwälte, investigativ und eigentlich gut geschützt von Berufs wegen, den Machenschaften einflussreicher Kreise zum Opfer fallen oder wenigstens so unter Druck gesetzt werden, dass sie den Mund lieber nicht mehr aufmachen. Und von richtigen Diktaturen und Ganovenstaaten wollen wir lieber, ganz diplomatisch, schweigen.

Der investigative Journalismus wird nicht umsonst als die „vierte Gewalt“ im Staate bezeichnet. Und wie jede Gewalt in einem Sozialsystem wird sie von den konkurrierenden Gewalten argwöhnisch beäugt und mehr oder weniger bekämpft. Insbesondere der, jetzt bei Wikileaks exemplarisch zu beobachtende Ansatz, diesen die finanzielle Basis zu entziehen, gilt als probates Mittel effektiver Reglementierung. Da es bei Wikileaks schnell gehen soll, wird dieses Vorgehen auch kaum in Seide und Samt gekleidet, sondern ist sehr direkt und platt organisiert.

Der demokratische Journalismus im großen und ganzen wurde, wird und hat sich zum Teil selbst, allerdings auch demontiert. Wer täglich durch die dutzenden Online-Zeitschriften blättert, bemerkt sehr schnell wie sich die Nachrichten überall gleichen. Selbst über die Landesgrenzen und Kontinente hinweg. Es liegt daran, dass sich kaum noch eine Gazette eigene teure Komplett-Redaktionen leisten kann, in der auch noch Vollzeitangestellte Reporter investigativen, und damit teuren, Journalismus betreiben. Meist werden, oft wortwörtlich, die verfügbaren Nachrichten der Presseagenturen per Cut and Paste übernommen und bestenfalls etwas aufgehübscht.

Die meisten Journalisten sind auch keine Festangestellten mehr, sondern leben in einem prekären Arbeitsverhältnis als freier Mitarbeiter. Wer sich da zu weit aus dem Fenster legt, erhält möglicherweise keine Folgejobs mehr, und da bleibt man vorsichtshalber gerne mal beim Eingemachten. Zumal das ja alle Anderen auch schreiben, und da kann es ja nicht falsch sein. Hinzu kommt der Fakt, dass eine Illustrierte typischerweise zu 50% aus Werbeseiten besteht. Denn ohne Werbung, mit Zeitungsverkauf alleine, ist kein Blatt dauerhaft zu finanzieren. Die Abhängigkeit vom Wohlgefallen der edlen Spendern ist also elementar, nicht weniger als politische Parteien von Ihren jeweiligen Lobbyisten abhängen.

So zitiert zu diesem Problem die Wikipedia den Kommunikations- und Medienwissenschaftler.Prof. Dr. Siegfried Weischenberg: „[…] die öffentliche Aufgabe, die [Journalismus] nach höchster Rechtsprechung wahrnehmen soll, [ist] inzwischen mit der Lupe [zu] suchen. Im gesamten Journalismus wird zunehmend mehr die Kritikerrolle zur Disposition gestellt. Die Krise des Journalismus […] erweist sich vor allem als Krise seiner Kritikfunktion; sie wird obsolet, wenn die Distanz fehlt und die Relevanz sowieso. Dies gilt schon traditionell für den strukturell korrupten Motor- und Reisejournalismus sowie einen Teil der Wirtschaftspublizistik. […]“ Bezahlte Journalisten seien, um ihre immer knappere Arbeit zu behalten, wegen der Einschaltquoten und der Werbungs-Abhängigkeit, tendenziell wie in der PR mehr am Mainstream orientiert. Unabhängiger Fach- und Bürgerjournalismus sei investigativer.“

Assange, als investigativer Journalist,ist nun auf der einen Seite heftigster Kritik ausgesetzt, die ihm quasi Vaterlands- Verrat und Gefährdung vorwirft. Und auf der anderen Seite Subjekt ungestümer Heldenverehrung. Einerseits ist klar, das einige von ihm veröffentlichte Geheimpapiere hart am Rand journalistischer Legalität dümpeln, anderes war längst überfällig und ein Versäumnis oder gar Versagen des Mainstreamjournalismus. Bei den zuletzt so heftigen Unmut hervorrufenden Diplomatendepeschen muss man sich allerdings fragen, ob es wirklich so interessant ist, ob US-Diplomaten Verbündete wie Putin, Berlusconi oder Karzai unterm diplomatischen Strich für eitle, korrupte oder kriminelle Gockel in Nadelstreifen halten oder nicht. Denn diese „Geheimnisse“ liegen jedem politisch interessierten und informierten Bürger schließlich schon lange vor, und dass es ausgerechnet den US-Diplomaten entgangen sein sollte, würde nun wirklich verwundern.

Was aber wirklich auf den Tisch gehörte, ist die tatsächlich unglaubliche Datensammelstelle der US-Diplomatie, die faktisch wie die IM’s der Staatssicherheitsbehörden benutzt werden. Erschreckend ist, das sich, insbesondere der weltweite Wortführer der Demokratie, beim Sammeln von Daten über und mit seinen Bürgern und Alliierten im Grundsatz kaum besser geriert, als wir es von Diktaturen selbstverständlich annehmen. Der Unterschied besteht weniger in Menge und Art der Daten, als in der Art und Weise wie sie verwendet werden. Aber auch dieser Unterschied droht, siehe obiges Zitat der Columbia Universität, über kurz oder lang zu verwischen.

Vaterlandsverräter oder Held der Demokratie? Die Geschichtsschreibung wird für Assange irgendwann einen Platz irgendwo zwischen diesen beiden Extremen reservieren, in Abhängigkeit davon was mit ihm und um ihn herum sonst noch so geschieht. Sicherlich ist er, unbeachtlich der individuellen Wertung, ein Held, und wie jeder Held zwiespältig und zwielichtig. Das gilt von Arminius bis Assange, und wie Ersterer wird er zweifellos einen hohen Preis für seine Heldentaten zahlen müssen. Personen wie Assange setzen jedoch wenigstens die Maßstäbe für die vielen kleinen Helden, etwa in den Redaktionen der freien Presse, oder an der Front in Afghanistan oder Irak, oder auch in den Hinterzimmern der etablierten Macht, von deren zukünftigen Taten Untergang oder Überleben der Demokratie abhängen.

Kleine Helden wie etwa Horst Seehofer, der trotz gegenteiliger Sprachregelung seiner eigenen Regierung eine Rentenkürzung öffentlich als das bezeichnete, was sie ist: Eine Rentenkürzung. Auch wenn er wieder ins Hinterzimmer der Macht zurück tigern musste, es war allein aus seinem Munde eine ganz wichtige Wortmarke. Oder der Obergefreite Bradley Manning, der ein Video kopierte, das zeigt, wie die Besatzung eines US-Kampfhubschraubers 2007 im Irak elf Zivilisten massakrierte. Für die Demokratie wünschte ich mir ganz ganz viele Seehofers oder Mannings, und, ein paar wenige Assangisten. Denn große Helden alleine legen nur die Messlatten zur Orientierung, aber erst die ungezählten kleinen Helden schaffen die Voraussetzung für eine notwendige Korrektur ansonsten dauerhaft untragbarer Zustände.