Dienstag, 21. September 2010

BRD goes DDR: Steter tropfen höhlt das Hirn

Politiker und Börsianer pflegen in kurzen Zeiträumen zu denken. Erstere im Rythmus der Monatsumfragen bei den Wählern, Letztere im Rythmus der kurzfristigen, statistischen Schwankungen der Kurse, die es gilt mit zügigen Kapitalbewegungen in Gewinne zu verwandlen. Ganz egal ob die reale Wirtschaft gerade rauf oder runter geht.

(Bild: Wikipedia) Es vernebelt der im zweiten Quartal stattgefundene Miniaufschwung, von annualisiert 9,1% in der Exportnation BRD, die grauen Zellen aller relevanten Gruppen. Jedoch, am längerfristigen Trend hat sich natürlich nichts geändert. Das das Problem dort liegt, wo man es glaubt durch massive Stütze abfangen zu können, das schwant aber immer mehr Denkern.

So schreibt die Finanzial Times Deutschland unter dem Titel "Schlimmer als vor der Krise" über die aktuelle Situation der Noch-Supermacht USA: "Die Flow of Funds der Fed für das zweite Quartal sind da. Sie zeigen, dass die finanziellen Verwüstungen von Dekaden natürlich nicht in Quartalen vergessen gemacht werden können. Und sie lassen an der These einer langsamen Erholung zweifeln."

Und weiter zu den offiziellen Zahlen: "Laut der jüngsten gesamtwirtschaftlichen Finanzierungsrechnung der Fed sind die Schulden der privaten US-Haushalte im zweiten Quartal 2010 mit 13.450 Mrd. Dollar höher gewesen als Mitte 2007, als die Finanzkrise bei Verbraucherverbindlichkeiten von 13.403 Mrd. Dollar offen ausgebrochen war. Gleiches gilt für die nichtfinanziellen Firmen in Amerika, die nunmehr Kredite von 10.909 Mrd. Dollar aufweisen, gegenüber 9949 Mrd. Dollar im zweiten Quartal 2007."

Man wundert sich weiter darüber, das es auf der anderen Seite der Theke komisch aussieht: "Nur der US-Finanzsektor hat seine Schulden in dieser Zeit per saldo abgebaut - von 15.173 auf 14.744 Mrd. Dollar." Oh Wunder, wer hätte das gedacht. Und was bleibt beim Durchschnittsbürger und Steuerzahler hängen: "Hingegen sind die handelbaren Schulden des Staates natürlich explodiert - um 3988 auf 11.094 Mrd. Dollar. Und da das nominale BIP seit Mitte 2007 gerade mal um vier Prozent zugenommen hat, sind die Schulden aller nichtfinanziellen Sektoren im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung von 217 auf 243 Prozent gestiegen.". Na so was.

Der Verbraucher steht natürlich für alles gerade: "Besonders wegen der Aktienmarktverluste ist das Nettovermögen der US-Verbraucher im zweiten Quartal derweil merklich gesunken. Die Aktienmärkte haben sich seit Ende des zweiten Quartals etwas erholt, aber das ist ein geringer Trost, wenn man bedenkt, dass das Nettovermögen der Verbraucher gegenüber dem zweiten Quartal 2007 um ein Fünftel oder 12.253 Mrd. Dollar geschrumpft ist. Dass sich das Verbrauchervertrauen partout nicht verbessern will (eher im Gegenteil), dürfte neben der Arbeitslosigkeit auch diesem Umstand geschuldet sein."

Gleiches gilt für die nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften, das sind also die Gesellschaften der Realwirtschaft, die Unternehmen außerhalb des Bankensektors: "Unterdessen hat sich das Nettovermögen der nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften zwar stabilisiert, ähnlich wie zuvor jenes der Verbraucher. Doch auch in diesem Sektor liegt das Nettovermögen um 21 Prozent oder 3308 Mrd. Dollar unter dem alten Spitzenwert. Das ist ein Faktor, der kaum je bedacht wird, wenn es um die Investitionsschwäche der US-Firmen geht."

Die Schlussfolgerung der FTD ist. "All das dürfte dazu beitragen, dass inzwischen viele Ökonomen von einer (zu?) langsamen Erholung ausgehen - wobei sie einen Rückfall in die Rezession allerdings schon deshalb ausschließen, weil die Investitionen und die "Ich-gönn-mir-was"-Ausgaben der Verbraucher bereits so niedrig seien, dass sie kaum noch fallen könnten. Was die Ökonomen nicht sagen, ist indes, dass eine (zu) langsame Erholung kein stabiles Gleichgewicht ist, schon gar nicht bei einer Unterbeschäftigung von 17 Prozent, weil ein weiterer Anstieg der Arbeitslosigkeit droht. Das jedoch könnte neue Tumulte an den Börsen auslösen. Damit wiederum würden sich die Bilanzen von Verbrauchern, Firmen und Finanzsektor noch verschlechtern. Und schwups hätten wir die nächste Rezession."

Wie wahr, wie wahr. Bei aller Richtigkeit der FTD-Analyse, die Ursache wird immer noch zu wenig begriffen. Ursächlich ist dafür natürlich das grundlegend fehlerhafte Wachstumsmodell des IWF. Danach müsste nämlich das künstliche Aufpumpen des Finanzsektors direkt in einen Aufschwung münden. Was natürlich nicht geht, da all das künstlich geschaffene Geld nach zusätzlichen Renditen schreit, die in letzter Konsequenz immer das BIP stemmen muss. Und bei den dummgeschwätzten Politikern auf offene Ohren stößt, die das mit weiterem geschenkten Gäulen honorieren und somit das Problem weiter verschärfen. Die aktuellen Millionenboni der Pleitebank HRE, natürlich aus sauer verdienten BIP der Steuerzahler finanziert die just genau diesen Herren den Arbeitsplatz mit dreistelligen Milliardengarantien sicherten, werfen da ein markantes Schlaglicht.

Das da was nicht stimmen kann, fiel auch schon der FTD auf: "Wie weit sich die Bankenwelt nur noch mit sich selbst beschäftigt und den Bodenkontakt verloren hat, zeigt unter anderem ihre Gehaltsrechtfertigung. Die hohen Löhne seien die Kompensation für die erhöhte Arbeitsplatzunsicherheit im ach so harten Investmentbanking. Doch, doch, daran glauben die wirklich. Auf mittlerer Entscheidungsebene im Schnitt rund 200.000 Euro kassieren, weil man ja ständig mit Jobverlust rechnen muss. Der übrigens, wenn er eintritt, mit ein bis zwei Monatsgehältern Abfindung pro Jahr Betriebszugehörigkeit versüßt wird. Doch davon mal abgesehen: Wie viele arbeitslose Banker gibt es heute, kurz nach der größten Finanzkrise der letzten Jahrzehnte, eigentlich? Wenige, sehr wenige. Die Arbeitsmärkte in New York, London und Frankfurt sind fast leergefegt, die Festgehälter steigen aufgrund des Arbeitskräftemangels, und in Deutschland bauen viele Investmentbanken und Broker aus der zweiten Reihe ihre Teams sogar aus."


Man muss sich das nur einmal vorstellen, wie das in der normalen Arbeitswelt wäre. Da kommen die Angestellten und verlangen saftige Prämien dafür, dass sie lediglich die Arbeit tun, für die Sie eingestellt wurden und schon kräftig bezahlt werden, Erfolg hin oder her. Stellen Sie sich solche faktische Arbeitsverweigerung in Verbindung mit Erpressung bei Stahlarbeitern vor, was wäre wohl die gesellschaftliche Reaktion? Das dürfen Sie sich jetzt gerne einmal ausmalen. Anders beim Nadelstreifenträger der Geldelite, die ohne großen Zweifel als Staat im Staate bezeichnet werden darf. Hier finden solche Anwandlungen offenes Gehör, das Geld wird ganz schnell locker gemacht und der Protest der Anständigen ist kaum mehr wert, als eine Randnotiz im Lokalteil der Presse.

So resümiert die FTD: "Hier ist vieles aus dem Gleichgewicht gelaufen. Im Übrigen können sich die Kreditinstitute mit ihren Kapitalquoten glücklich rechnen, wie sie wollen. Seit Ende 1998 ist die aggregierte Bilanzsumme der Banken im Euro-Raum um 17.895 auf 32.075 Mrd. Euro gestiegen, während das nominale BIP lediglich um annualisierte 2895 auf 9157 Mrd. Euro zugenommen hat. Allein die Ausleihungen an die Staaten und die Privaten im Euro-Raum sind um 8628 auf 16.329 Mrd. Euro explodiert. ..So frohgemut die Banken den Nenner für die Berechnung der Kapitalquoten, die risikogewichteten Aktiva, also auch zusammenstutzen: Einen beträchtlichen Teil ihrer Aktiva wollte man nicht mal geschenkt haben."

Das Problem ist nur: Sie kriegen die Aktiva auf jeden Fall geschenkt, aber nicht umsonst. Denn Zins und Zinseszins aller Aktiva, und seien sie noch so inhaltsleer und unsinnig wie im Derivategeschäft, werden durch Finanzpushing dem BIP rigoros abgefordert. Und wenn’s mal wieder nicht klappt, dann darf der Steuerzahler für die "Verluste" einspringen. Denn was internationale Grossbanken an Aktiva bewegen übertrifft die BIP's kleinerer Staaten bei weitem und selbst bei (noch) starken Staaten wie der BRD übersteigen sie längst jeden nur denkbaren politischen Handlungsspielraum.

Was man bei der FTD im speziellen, und bei der Politik und Ökonomie im allgemeinen, noch immer nicht begriffen hat, ist der simple Umstand das volkswirtschaftlich Schulden, im Zusammenhang mit untotbaren verzinstem Kapital, ganz grundsätzlich nicht abbaubar sind. Sie können nur größer werden, nicht kleiner. Das man es nicht begreift ist umso erstaunlicher, als das es nicht nur auf jedem Dollarschein explicitis verbis drauf geschreiben steht, sondern auch jedem Geldwirt auch ohne komplexe Mathematik geläufig sein sollte. Unser Geld ist alleine Schuld gedeckt, zwischen Vermögen und Schulden gilt völlige(!) Identität.


Volkswirtschaftlicher Schuldenabbau gelingt nur durch relative oder absolute Vermögensvernichtung!


So simpel dieser Zusammenhang tatsächlich ist, er ist noch fern der allgemeinen Wahrnehmung. So ist der Artikel des Fokus höchst aufschlussreich, der sich mit dem Buch des Ex-Finanzministers Steinbrück beschäftigt: „Parallelgesellschaften existieren nicht nur am unteren Ende, sondern auch an der Spitze der Einkommenspyramide...Dort leben diejenigen, die sagen: Wir brauchen den Staat nicht, jeder Euro Steuerzahlung ist zu viel. Öffentliche Dienstleistungen benötigen wir nicht, wir können sie privat kaufen.“ Die Gesellschaft sei nicht gefährdet durch Rechts- oder Linksausleger, sondern durch die Protagonisten des Systems selbst. „Es sind die Privilegierten, die durch Maßlosigkeit, den mangelnden Sinn für Balance und Proportionen, durch eine Bereicherungsmentalität an dem Ast sägen, auf dem sie sitzen. Ihnen fehlt der Sinn für soziale Bündnisse nach unten, um Verlierer zu integrieren“, sagte Steinbrück."

Natürlich hat der Mann völlig recht, und er spricht aus Erfahrung wenn er sagt: "Die Menschen in der Oberschicht müssten erkennen, „dass ihre übersteigerten Gewinnerwartungen zur Zerstörung der Marktwirtschaft führen. Und dass ihre persönliche Einkommensentwicklung so nicht weiterlaufen kann.“ Gemeinwohlorientierung könne man aber nicht durch Gesetze verordnen. „Das geht nur durch eine breite Debatte"".

Das diese Debatte zur Zeit noch völlig unmöglich ist, was sicher auch auf Lobby-, Werbe- und Pressearbeit der Finanzindustrie zurück geht, zeigen vor allen Dingen aber die Leserreaktionen auf diesen Artikel, in der sich Volkes Stimme artikuliert. Die sollte jeder einmal studieren. Denn sie zeigen das erschreckende Ausmaß volkswirtschaftlicher Unkenntnis, und den erstaunlichen Umstand, dass die Leserschaft sich schützend und zähnefletschend vor die lieben Reichen stellt. Steter Tropfen höhlt nicht nur den Stein, sondern auch das Hirn. Wobei der Begriff der "Reichen" völlig verwässert und sachfremd erscheint. Da werden sämtliche Vor- und Fehlurteile des letzten Jahrhunderts bemüht, um nur ja das Schreckgespenst einer Währungs- und Vermögensreform von sich zu weisen. Die kommt aber früher oder später so oder so, man kann sie nur heraus zögern. Wobei man dabei das Elend nur verlängert und verschlimmert.

Zunächst sollte man sich mit dem Begriff der „Reichen“ und einer sachgerechten Definition beschäftigen. Man muss erst einmal zwischen relativen und absolutem Reichtum unterscheiden. Relativ reich ist, insbesondere wenn man auch mal über den Tellerrand der BRD hinausschaut, natürlich jeder, der mit seinem Lohn seine Lieben ernähren kann und am Ende des Monats noch einen kleinen Überschuss hat, den er ggf. auf seinem Bankkonto anlegen kann. Relativ reich sind in jedem Fall Menschen wie Steinbrück oder Sarrazin, die als (Ex-)Spitzenbeamte über ein sicheres und erkleckliches Gehalt bzw. Pensionen verfügen.

Aber Sie sind keine Vertreter der „Reichen“ um die es in der Diskussion geht bzw. gehen sollte. Ohne ihren VIP-Status würden solche Leute bei den wirklich Reichen bestenfalls durch den Dienstboteneingang ins Haus gelassen. Aus diesem Missverständnis wird oft auch über die so genannte „Reichensteuer“ diskutiert, wobei die zugrunde liegende Definition tatsächlich ziemlich sachfremd ist. Wenn etwa Aussagen fallen wie „Der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Peter Ramsauer, bezeichnete die „Reichensteuer“ als „ökonomisch unsinnige Neidsteuer“.“, so ist das gar nicht verkehrt. Denn eine Reichensteuer, die bei Einnahmen aus Erwerbstätigkeit ansetzt, verfehlt ökonomisch ihr Ziel völlig.

Natürlich kann man bei den hohen Erwerbseinkommen steuerlich noch etwas abknappsen, da diese relative zu mittleren Einkommen de facto wegen gedeckelter Sozialabgaben begünstigt sind, aber das sind volkswirtschaftliche Peanuts. Sie sind nämlich, Vorteile hin- oder her, auch nur Teil des BIP’s, die man vor dem schädlichen Einfluss überbordenden Kapitaldrucks schützen müsste. Wirklich absolut reich sind Leute, die Ihr weit überdurchschnittliches Einkommen vorwiegend völlig erwerbslos beziehen, nämlich aus den Renditen von Kapitalanlagen.

Die Steuerungerechtigkeit setzt nämlich erst wirklich bei der Ungleichbehandlung von Erwerbs- und Kapitaleinkünften ein. Am schlimmsten trifft es dabei den gutverdienenden Mittelstand nahe der Bemessungsgrenzen der Sozialversicherungssysteme. Denn die zahlen, vom Arbeitgeberbrutto (nicht Arbeitnehmerbrutto) gerechnet, schon rund 60% Abgaben in allgemeine Kassen. Dazu kommen aber noch die Verbrauchssteuern, denn im Gegensatz zu reichen Leuten müssen Sie ihr Geld bis zum Monatsende fast vollständig aufbrauchen. Die tatsächliche Steuerbelastung liegt damit bei rund 70%. Aus dem Grunde wird der absolute Löwenanteil der Staatsquote aus Sozialabgaben, Lohnsteuer und Mehrwertsteuer geschöpft.

Das Kapital dagegen, kommt fein weg. Zunächst mal müssten wenigstens die Zinseinnahmen eigentlich der Einkommensteuer, in der Spitze zur Zeit bei 45%, unterliegen. Tatsächlich brauchen die aber nur 25% zu zahlen. Ganz legal, und von Sozialabgaben ist ganz zu schweigen. Aber das ist noch nicht das untere Ende der Fahnenstange. Selbst die 25% fallen de facto nicht an, denn viele Finanzprodukte sind, wenn man sie länger als ein Jahr hält, sogar steuerfrei. So stehen jährlich (je nach Jahr schwankend) gut 500 Mrd. Euro Zinseinnahmen nur 15 Mrd. Steuereinnahmen gegenüber. Und dabei habe ich die Erbschaftssteuer, die streng genommen gar nicht dazu gehört, schon mit eingerechnet. Also nur um den Dreh von läppischen 3%. De facto, und wir reden da nur über die realen Zahlen und nicht die Phantasiezahlen der Politik und Lobbyverbände, ist der BIP-Schaffende mehr als 20-mal so stark belastet, wie der Erwerbsfreie Anlagen-Reiche.

Und die sind mit dieser „Last“ immer noch unzufrieden und schaffen es scheinbar problemlos, Volk und Politik einzureden, dass ein weitere Besteuerung von Kapitalaktivitäten wahnsinnig schädlich für das Volk sei. Und die Politik beißt an, pumpt immer mehr Geld von Unten nach Oben, und wundert sich, dass beim Volke nichts ankommt außer weitere Abgaben-, Steuer- und Gebührenerhöhungen bei gleichzeitiger Ausgaben- und Leistungskürzungen für die Bewohner der zunehmend klammen Gemeinden. Ohne ein massives steuerliches Herangehen an die größen Vermögen ist aber eine dauerhafte Sanierung des Staates unmöglich.

BRD goes DDR: Wer das Glück der späten Geburt hatte und die DDR nicht kannte, er wird es bald erleben können wie es dort aussah, nach dem der Staat seine Infrastruktur nicht mehr bezahlen konnte. Wobei es in Teilen der USA schon heute so aussieht, wenn man mal abseits der Banken und Skylines unterwegs ist. Denn dort ist das Defizit schon lange so gewaltig wie im Pleitestaat Griechenland, und auch die Kreativität in der Gestaltung der offiziellen BIP-Daten ist nicht geringer. Das angebliche Wachstum existiert seid den Neunziger Jahren nur noch auf dem Papier (hedonisierte Statistik), in Wahrheit war es Stagnation und Niedergang.

Nur wenn die wahren Ursachen der Krise offen auf den Tisch kommen, dann ist eine Rettung in letzter Minute, wenn auch unter Schmerzen, machbar. Ansonsten erleben wir den gleichen Niedergang wie alle Hochkulturen der Geschichte. Im Gegensatz zu früher hätten wir aber heute die Informationen und Daten die ein gezieltes Handeln erst möglich machen. Ob sie genutzt, oder wenigstens nur verstanden, werden, halte ich aufgrund der klassischen Dynamik von Gesellschaft und Meinungsbildung allerdings für mehr als fraglich.

Freitag, 10. September 2010

Dead Man Walking IV: Das karge Brot des Mathematikers

Das "Dead Man Walking Modell" ist ja nun ein typisches Wachstumsmodell. Interessant ist es nun natürlich, vergleichend die in der Standardökomie aber tatsächlich verwendeten Modelle zu untersuchen. Die Wikipedia gibt dafür, dankenswerterweise, einen guten und schnellen Überblick, ohne sich gleich durch massenhafte Ökonomie-Schmöker wälzen zu müssen.

Vorab möchte ich die bezeichnende Schlussbemerkung des obigen Artikels zitieren: "Diese Formel wird vom Internationalen Währungsfonds in seiner Studie von 2005 zum Investitionsverhalten benutzt. Er spricht dabei von „Standard-neoklassischem Wachstumsmodell“. Wobei allerdings die meisten Gleichungen tautologisch sind, also für ganz unterschiedliche Wachstumsmodelle, also auch für das Harrod-Domar-Modell gelten."

Nun, wie sieht denn nun dieses tautologisch-standard-neoklassische „allgemeingültige“ Wachstumsmodell aus, dass die Grundlage aller tatsächlichen Entscheidungen für das Weltwirtschaftssystem ist?

Zunächst schauen wir uns das Modell, in der dort üblichen Schreibweise an:

(1) Y_t = (1+g)*Y_(t-1)

(2) I_t = (1+g)*I_(t-1)

(3) K_t = (1+g)*K_(t-1)

Dabei sind die Größen folgendermaßen definiert: Y ist das Bruttoinlandsprodukt, also das BIP. I ist die Bruttoinvestition und K ist der Kapitalstock. Die Größe g ist das jährliche Wachstum des BIP. Der Index _t heißt immer das letzte Bezugsjahr, _(t-1) dann natürlich das jeweils voran gegangene Jahr.

Aus diesen Gleichungen werden dann wichtige Folgerungen gezogen, die endlich in dem so genannten Koeffizienten der Kapitalwirksamkeit, engl.: productivity of debt: i* = I_t/K_t = ..., also Bruttoinvestitionen pro Aktiva bzw. Passiva gipfelt.

Bilder sprechen mehr als tausend Worte, daher hier zwei Bilder des identischen Umstands. Einmal das Bild (Quelle Wikipedia), das die Währungsexperten nach obiger Formel eigentlich erwarten würden:



Und nun das Bild, das nach den hoch offiziellen Daten der US-Census-Behörde (Quelle: SWARMUSA) in Wahrheit vorliegt:



Fällt ihnen da was auf? Zwar sind die beiden Graphen unterschiedlich skaliert, so oben offizielle Version logarithmisch, was die Dramatik des Effektes sogar noch stark unterdrückt. Nun, beim Ersten geht es jedenfalls mächtig aufwärts, bei Zweitem dagegen mächtig abwärts! Da läuft wohl etwas grausam schief. Denn die obere Graphik ist das, was unsere ökonomischen und politischen Verwalter als eisernen Maßstab für ihre Entscheidungen nehmen.

Warum das so problematisch ist, dass sieht man, wenn man die klassische Herleitung des Wachstumsmodells des Internationalen Währungsfonds einmal in die Notation des DMWM übersetzt:

(1’) B_t = (1+pw)*B_(t-1)

(2’) pn*A_t = (1+pw)*pn*A_(t-1)

(3’) A_t = (1+pw)*A_(t-1)

Das sind die klassischen Formeln in unserer DMWM-Notation. Die Bedeutung der Größen B (BIP), A (Aktiva=Passiva), pn (Investition) können Sie dem Beitrag DMWM entnehmen, den Wert Wirtschaftswachstum pw dem Beitrag zur Ökonomie auf meiner Homepage.

Schon bei der Aufstellung dieser Gleichungen sieht man die zwei Fehler der Klassiker: Erstens wird vereinfachend angenommen, dass alle Größen mit gleicher Rate g (das ist unser pw) wachsen. Nun, Vereinfachungen in Modellen sind nicht grundsätzlich zu verteufeln, aber man muss sich immer dabei überlegen, ob eine solche Vereinfachung angemessen und praktikabel ist. Aber schon ein einfacher Blick auf die Wachstumsraten von BIP und Aktiva über einen längeren Zeitraum zeigt, dass dies unmöglich gerecht fertigt ist:



Die Wachstumsraten sind klar und deutlich unterschiedlich. Aber selbst ohne die Kenntnis der Graphik ist es äußerst gewagt, eine solche vereinfachende Annahme hier einfließen zu lassen. Denn jedem Banker ist klar, das die Kapitaleigner immer etwas mehr haben wollen, als das Wirtschaftswachstum alleine hergeben würde. Und die dann unweigerlich einsetzende zunehmende Spreizung, nicht zuletzt wegen des Zinseszinseffektes, ist nun wirklich kein Geheimnis.

Aber es kommt noch viel schlimmer: Die drei Gleichung stellen nun ein Gleichungssystem dar, aus dem weitere Folgerungen hergeleitet werden. Wir sehen aber sofort, dass das System singulär ist, denn Gleichung (2) und (3) sind nicht unabhängig, sondern unterscheiden sich nur um einen Faktor, den man einfach ausdividieren kann. Die Folgerungen aus (hier unwissentlich) singulären Gleichungssystemen sind aber immer dubios, um es mal ganz vorsichtig auszudrücken. Mathematisch gesehen sind sie prinzipiell so sinnlos wie unzulässig.

Eigentlich muss man die Singularität des Gleichungssystems schon sehen, wenn man sich die Vereinfachung des Wachstumskoeffizienten g anschaut. Denn es ist schon der Erfahrung widersprechend, dass der Zins der Kapitalwirtschaft gleich dem Wirtschaftswachstum ist, denn er ist grundsätzlich immer höher, wie folgendes Bild zeigt:



Zweitens setzt die Verwendung eines identischen g in (1) und (3) voraus, dass BIP und Kapitalstock dauerhaft die gleiche Größe besitzen. Denn andernfalls wächst oder schrumpft der jeweils andere exponentiell stärker. Und dann sind notwendigerweise auch die g unterschiedlich. Man könnte hier jetzt frecher weise unterstellen, dass eben nur der Anteil des Kapitalstockes der vom BIP tatsächlich gebraucht wird verzinst würde, und der Rest eben nicht, um das Gleichungssystem zu retten. Aber natürlich weiß jeder, das alles Kapital verzinst sein will, nicht nur das was für Investitionen in die Realwirtschaft tatsächlich gebraucht wird. So ein innerer Widerspruch ist symptomatisch für ein singuläres Gleichungssysteme.

Das Problem, genau an dieser Stelle ist, dass die Gleichungen des BIP und des Kapitalstockes als unabhängig und nicht wechselwirkend betrachtet werden. Das kann nicht funktionieren, und man muss es eigentlich schon sehen, wenn man versucht die Gleichheit aller drei g's zu begründen. Aber man sieht es spätestens, wenn man die wundersam anmutende, völlig unabhängige gleiche Wachstumsgleichung

(1’) Y_t = (1+g)*Y_(t-1) = Y_(t-1) + g* Y_(t-1)
(3’) K_t = (1+g)*K_(t-1) = K_(t-1) + g* K_(t-1)

umschreibt in die (mit DeltaT=1 Jahr) völlig äquivalente Differentialgleichung:

(1’) dY/dt = g*Y
(3’) dK/dt = g*K

Die hat natürlich eine simple Lösung, nämlich einfach

(1’) Y(t)=Y0*exp(g*t)
(3’) K(t)=K0*exp(g*t)

d.h. beide Größen wachsen, unabhängig voneinander, bis in alle Ewigkeit auf beliebige Größen. Spätestens an diesem Punkt müsste einem die völlige Unsinnigkeit des Modells auffallen. Wenn man es sich mit der Modellbildung aber nicht so einfach macht, dann kommt man ganz schnell auf die einzig vernünftige Idee, nämlich dass die Gleichungen (1) und (3) verkoppelt werden müssen. Denn grundsätzlich gilt erstmal

(1’) Y_t = a*f(Y_(t-1)) + b*g(K_(t-1))
(3’) K_t = c*h(K_(t-1)) + d*j(Y_(t-1))

Da wir aber von einem linearem Verhalten ausgehen können, schreiben wir

(1’) Y_t = a*Y_(t-1) + b*K_(t-1)
(3’) K_t = c*K_(t-1)) + d*Y_(t-1)

Das sieht jetzt schon so ähnlich aus, wie bei den Klassikern, aber jetzt kommt der wichtige Schritt, wo die Ökonomie das Wasser lässt: Da das BIP in aller Regel Kapital finanziert wächst, kann man a=0 setzen. Es kann zwar aus sich selbst wachsen, aber aus eigenem Saft, etwa durch Steigerung der Arbeitskraft, geht das kaum und nur sehr langsam. (Zudem ist es noch nicht einmal das, was wir untersuchen wollen. Aber genau den Unfug haben die Klassiker gemacht: Die haben b=0 gesetzt, und weils so schön einfach war, gleich d auch noch.) Also schreiben wir richtigerweise:

(1’) Y_t = b*K_(t-1)
(3’) K_t = c*K_(t-1)) + d*Y_(t-1)

Jetzt sind die Gleichungen nämlich korrekt verkoppelt. Jetzt fehlen uns nur noch die unbekannten b,c,d. Die können grundsätzlich natürlich auch wieder Funktion vieler Einflussgrössen sein, so insbesondere f(t,b,c,d,Y,K). An dieser Stelle dürfen wir jetzt aber tatsächlich ein paar sinnvolle Vereinfachungen vornehmen. Und, wir schreiben die Gleichung jetzt gleich von einer stümperhaften Differenzengleichung in eine mathematisch nahrhaftere Differentialgleichung um:

(1’) dY/dt = b*K
(3’) dK/dt = c*K + d*Y

Nun, d ist offensichtlich die volkswirtschaftliche Sparquote ps, die natürlich auch den Kapitalstock erhöht. Bleiben noch b und c. Die sind nun aus einsehbaren Gründen gleich groß, aber entgegengesetzt, und stellen die Netto- bzw. Bruttoinvestitionsquote pn dar (Netto oder Brutto, je nachdem ob man es aus Kapital oder BIP-Sicht betrachtet). Also:

(1’) dY/dt = -pn*K
(3’) dK/dt = pn*K + ps*Y

pn als Funktion der Zeit pn(t) ist jetzt nur noch der Erfahrung entsprechend adäquat zu modellieren, siehe z.B. unser DMWM, und man ist fertig.

Der Unterschied zwischen der fälschlicherweise erwarteten und der tatsächlich vorliegen Kapitaleffektivität, ist mehr als eine Marginalität. Denn dadurch wird die Wirksamkeit der zur zeitigen riesigen Kapitalspritzen in die Wirtschaft der USA und Europas bei weitem überschätzt. Man glaubt daher nämlich felsenfest, dass man die Funktion (3) kräftig füttern müsste, damit dann automatisch die Funktion (2) ansteigt und daraus folgt, dass dann auch die Funktion (1), das BIP, wachsen müsste. Nun sind aber gerade Funktion (3) und (2) singulär, und damit das ganze Gedankengebäude hinfällig.

In Wahrheit ist der Koeffizient der Kapitalwirksamkeit i*=dY/dK bzw. =dB/dA in unserer Notation. Und da nun halt mal dA tendenziell größer als dB, und, dB inzwischen Null oder sogar negativ auf mittelfristige Sicht ist, sind die exzessiven Kapitalspritzen der Gegenwart, entgegen ihrer Intention, völlig kontraproduktiv.

Kennen Sie den Spruch: "Mutter, es kommen mehr Gäste als erwartet. Schütt' doch noch mehr Wasser in die Suppe!"? Nun, es werden eben nicht mehr Leute satt, wenn man einfach einen Eimer Wasser in die Suppe kippt. Und wenn dann irgendwann die Hälfte der Welt verhungert ist, und sie dann noch einen Enkel haben der partout keine Mathe lernen will, dann sagen Sie ihm: „Liebes Kind, die halbe Welt ist verhungert, weil es Leute wie dich gibt, die nicht gerne Mathe gemacht haben!“.

Das es viel hilft, kann ich allerdings nicht versprechen.